Zufällig erfuhr ich Anfang 2018, dass die IHK Mittleres Ruhrgebiet sich in einem Veränderungsprozess hin zu Selbstorganisation befände. Ich gebe zu, ich war höchst ungläubig - denn man hört viel oberflächlichen Schmu im Kontext von "New Work" -, doch auch äußerst neugierig. Ich nutzte daher die Veranstaltung "RuhrFaktor New Work" am 23.11.2018 als Gelegenheit, mir selbst ein Bild zu machen und nahm an einer Führung durch's Haus teil. Eine Mitarbeitende und der Hauptgeschäftsführer berichteten über den Veränderungsprozess der IHK Mittleres Ruhrgebiet und zeigten uns die sichtbaren Veränderungen im Haus.
Denn vermutlich bin ich nicht die einzige, deren Bild einer IHK (auch) von Bildern einer Architektur geprägt ist wie sie auf dem nebenstehenden Foto zu sehen ist. Es entstand bei meinem Besuch bei der IHK Mittleres Ruhrgebiet. Nüchterne Gänge mit vielen geschlossenen intransparenten Türen atmen gewichtige Geschäftigkeit, doch dahinter verbirgt sich auch ein gewisses Maß an Bürokratie. Eine Institution, die einerseits die Interessen der Unternehmen der Region vertritt, sie berät und unterstützt und andererseits als Körperschaft des öffentlichen Rechts ihnen gegenüber auch hoheitliche Aufgaben des Staates vertritt. Machtvoll, kompetent, manchmal hilfreich, manchmal rigide - und irgendwie auch ein bisserl verstaubt und aus einer anderen Epoche.
Mit einem Wechsel in der Hauptgeschäftsführung 2015 zu Eric Weik begann bei der IHK Mittleres Ruhrgebiet der Wandel. "Es herrschte ein enormer Leidensdruck und damit verbunden hohe Veränderungsbereitschaft bei allen Mitarbeitenden." Keiner wollte, dass es so blieb, wie es war, sondern alle waren sich einig: Es musste unbedingt anders werden. Es ging um die Idee, anders zusammen zu arbeiten, Werte und eine Haltung miteinander zu leben und mehr zu kommunizieren, um FÜR die Unternehmen besser zu werden.
In dieser Ausgangslage schlug Eric Weik den Weg ein, die Mitarbeitenden vollumfänglich in diesen Prozess einzubinden. "Jeder Mensch lernt doch ständig dazu. Wie könnte ich mir anmaßen, besser zu wissen, was richtig ist, als andere?!" Daher starteten hierarchiefreie Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen, zu denen sich von Anfang an jeder melden konnte. Und zwar unabhängig von seinen bisherigen Aufgaben. Es ging um Interesse und Ideen und die Möglichkeit, sich einzubringen. Parallel dazu begann im damaligen Führungskreis ein intensiver Prozess, in dem Aufgaben, Tätigkeiten, Rollen und Inhalte der bisherigen IHK-Schwerpunkte kritisch hinterfragt wurden. Daraus resultierte die Entscheidung, die bisherige Struktur aufzugeben. Stattdessen wurden vier Kompetenzfelder für alle Themen identifiziert, denen sich die Mitarbeitenden selbst zuordneten. Je zwei Mitarbeitende übernehmen seither je Generalthema die Verantwortung und suchen selbständig die Abstimmung mit den relevanten KollegInnen.
Alle Themen werden in Arbeitsteams, Projektteams oder Kompetenzteams bearbeitet. Jeder Mitarbeitende entscheidet selbst, in welche Arbeitsteams er/sie sich einbringt. Jede Team bestimmt selbständig, wer die Themen bei Workshops und Veranstaltungen als Sprecher vertritt. "Meine größte Herausforderung heute ist loszulassen, denn es funktioniert." berichtet Kerstin Groß, die für das Kompetenzfeld "Menschen stärken" verantwortlich ist und heute die Besucherführung leitet.
Strategiepläne und Ergebnisse der Arbeitsteams sind für alle transparent: Sie hängen im sog. "Raum der Veränderung", ehemals als Vollversammlungssaal bekannt. Er wird nun für Versammlungen und Workshops genutzt, wenn die Mitarbeitenden die Entwicklung der IHK vorantreiben. Im Saal liegt auch der neue, kreisförmige Organisationsplan, der immer wieder nach Bedarf überarbeitet und gemeinschaftlich angepasst wird und der damit stets präsent ist, wenn die Mitarbeitenden im Kreise sitzend die jeweils anstehenden Themen diskutieren. So arbeiten alle Mitarbeitenden vernetzt zusammen und stellen sicher, dass es in allen Themen vorangeht.
"Meine Rolle bestand vor allem darin, den Mitarbeitenden die Erlaubnis zu erteilen, sich vom Alten zu lösen." kommentiert Eric Weik. Er ermunterte sie, neue Wege zu erproben und sich unabhängig von vordefinierten Zuständigkeiten einfach in die Themen einzubringen. "Früher hat mich nie jemand gefragt, was ich noch so kann [außerhalb meines Arbeitsbereichs]. Heute kann ich mich einfach einbringen", sagt Kerstin Groß. Und: "Methodisch haben wir uns nicht festgelegt. Wir probieren einfach aus und nehmen, was zu uns passt."
Neben der Veränderung der inneren Strukturen bezog die IHK durch Workshops auch ihre Mitgliedsunternehmen in den Veränderungsprozess ein. Ergebnis sind nach Auflösung der bisherigen Ausschüsse die sog. Innovationskreise, in denen branchenübergreifend Themen behandelt werden. Darüber hinaus gibt es Beiräte und neue Formate, wie den RuhrFaktor. Auch identifizierte die Vollversammlung neue Aufgaben für die IHK, die künftig als ihr Sprachrohr in der Region und als Wissensmultiplikator fungieren soll. In ihrer Haltung bewegt sich die IHK damit weg von "Wenn Sie X erreichen wollen, müssen Sie Y einhalten" hin zu "Wir machen's möglich und beraten Sie zu den rechtlichen Rahmenbedingungen." Alle Änderungen zielen also darauf ab, mit den Unternehmen eng zusammen zu arbeiten und die Aktivitäten an ihren Bedarfen auszurichten.
Doch ganz reibungslos verlief der Veränderungsprozess, der letztendlich zu mehr Agilität führt, natürlich auch nicht. Keineswegs alle Mitgliedsunternehmen würden gut heißen, was ihre IHK da gerade so triebe. Auch intern sei man noch weiterhin im Lern- und Entwicklungsprozess. Schwierig sei dabei gerade manchmal die hohe Expertise der Mitarbeitenden - denn Veränderung bedeute, sich auf neues Terrain einzulassen und damit die Sicherheit und den Wirkungsgrad als Experte in einem Feld zurückzulassen. Und in manchen Themen sei agiles Arbeiten auch vielleicht nicht notwendig; vielleicht entwickle sich die Organisation ja irgendwann hybrid. Führung nur "on demand" auszuüben, fiele auch den Führungskräften manchmal schwer und man fiele schon mal zurück in alte Verhaltensmuster. Doch man kultiviere eine Atmosphäre, in der man sich gegenseitig Feedback gebe - im entwicklungsorientierten Format "I like ... and I wish ...". Auch gäbe es ständig Diskussionen um die Arbeitslast, denn das Tagesgeschäft mit dem Engagement in den Arbeitsteams in Einklang zu bringen, sei für alle eine Herausforderung. Und: "Es braucht superviel Kommunikation" gibt Kerstin Groß zu; darum kommen auch alle Mitarbeitenden jede Woche für eine Stunde zu einem großen Komptenzfeldmeeting zusammen. "Je digitaler die Arbeit, desto analoger arbeiten wir in den Teams."
Als äußere Zeichen dieser Veränderung sehen wir uns diverse Räume im Hause an. Im Rahmen der bauwerklichen Struktur, die noch geprägt ist von einer anderen Kultur (siehe Foto oben), entwickelt sich Neues: Die Küche, die zu einem echten Aufenthaltsraum geworden ist, mit liebevollen Details gestaltet. Kreativ- und Teambesprechungsräume, in denen starres Besprechungsmobiliar ersetzt wurde durch Möbel, die flexibles und kreatives Zusammenarbeiten unterstützen und die mit dem notwendigen Material bestückt sind, die man aus Design Thinking-Workshops kennt. Gerne buchen inzwischen auch die Mitgliedsunternehmen diese Räume für ihre Workshops. Eine "wandernde" Wunderbox für Ideenvorschläge steht aktuell im Treppenhaus.
Die Räume wurden allesamt von den Mitarbeitenden selbst entworfen und gestaltet, Mobiliar selbst beschafft und (auf-) gebaut, externe Dienstleister nur bei schwierigen Gewerken eingesetzt. Ich erkenne Stücke aus einem bekannten Möbelhaus. In einem Raum hängen Fotos, auf denen zu sehen ist, was den Mitarbeitenden wichtig ist. Manche enthalten Sprüche, andere zeigen Dinge oder Szenen, auf weiteren sind Kinder oder Familien zu sehen. "Es ist schön zu sehen, wie die Mitarbeitenden sich das Haus immer mehr erschließen", sagt Eric Weik.
Nach der Führung durch die Stockwerke kehre ich in den Raum der Veränderung zurück und sehe mir die kreisförmige Verfassung noch einmal an. Es hört sich für mich nach einer wirklich runden Sache an. Es macht mir Lust, mehr davon zu erfahren und es in der Arbeit der IHK tatsächlich zu erleben. Und ich bin beeindruckt von den Erfolgen und besonders von der Authentizität, mit der Kerstin Groß und Eric Weik über den durchaus schwierigen Prozess berichten.
Ich schreibe diesen Bericht daher auch, um mit meinen bescheidenen Möglichkeiten das gute Beispiel eines gelingenden Veränderungsprozesses hin zu einer menschengerechten und erfolgreichen Organisation bekannter zu machen. Um anderen Mut zu machen, sich auch auf einen solchen inklusiven und ergebnisoffenen, dadurch umso wirkungsvolleren Weg in die Zukunft zu machen.
Die Webseite der IHK Mittleres Ruhrgebiet finden Sie hier.
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Dann schauen Sie doch mal hier:
- Mein Blogbeitrag über die Kultur von codecentric in Solingen
- Mein Bericht über den buurtzorg-Kongress in 2018
- (Weitere Berichte von meinen Begegnungen mit verschiedenen selbstorganisierten Unternehmen werden noch folgen.)
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