Kennen Sie das? Sie betreten Montagmorgen gut erholt vom Wochenende und mit den besten Vorsätzen und Plänen für die neue Woche Ihren Arbeitsplatz. Diese Woche wollen Sie nun endlich einige Themen erledigt kriegen. Ihr Tag verläuft gut durchgetaktet, ein Termin jagt den anderen: Kundentermine, Teamgespräche, Mitarbeitergespräche, Abstimmungsgepräche mit internen Bereichen oder externen Partnern und Dienstleistern. Und zurück bleiben: Das Gefühl, dass ohne Sie hier nichts reibungslos läuft, die Erkenntnis, dass Ihre Aufgabenliste nicht kürzer geworden ist, und eine gewisse Bitterkeit, dass die anderen sich einfach zu sehr auf Sie verlassen und sich nicht so einbringen und zusammenarbeiten, wie es erforderlich wäre. Was tun?
Das Bild, das sich hier aufdrängt, ist das eines Flaschenmeisters: Der mit Schürze um den Bauch im kerzenbeleuchteten Weinkeller steht und in regelmäßigen Zeitintervallen jede einzelne Flasche anfasst, dreht und etwas rüttelt, damit nicht die viele Arbeit langer Jahre verloren geht, der Wein kippt und zu Essig wird. Der außerdem mit dieser Aufgabe enorme Verantwortung trägt, da das Einkommen und die Existenz vieler Beteiligter vom Gelingen seiner Arbeit abhängt.
Immer wieder begegnen mir Menschen, vor allem Führungskräfte, doch auch engagierte Mitarbeitende, die mir von diesem Erleben berichten. Und ganz ehrlich, natürlich geht es mir auch immer mal wieder so. Wir schimpfen über mangelnde Verantwortungsbereitschaft, Sorgfalt und Achtlosigkeit unserer Mitarbeiter und Dienstleister. Wir fordern, dass sie (ebenso wie die Politiker, die Konzernbosse, die Zuständigen oder oder) endlich mal was aus eigenem Antrieb und vorausschauend tun. Wir ärgern uns darüber, "immer alles selbst" machen zu müssen. Und so übernehmen wir, weil die anderen ja so unfähig sind, in winzig kleinen, kaum bemerkten Schritten immer mehr Verantwortung und Aufgaben beziehungsweise werden sie trotz Delegationsversuchen nicht los. Was darin mündet, dass wir untergehen in der Last des Alltags und uns hilflos fühlen. In der Management-Literatur nennt man die Ursache übrigens landläufig Mikromanagement.
"Aber das stimmt doch garnicht! Ich würde doch gerne viel mehr delegieren, wenn ich mich nur auf die anderen verlassen könnte!"
So höre ich Sie geistig bereits rufen. Und Sie haben ja auch recht, ich schenke Ihnen aus eigener Erfahrung absolut Glauben.
Nur hilft uns leider eine solche Einstellung nicht weiter. Denn dahinter liegt eine gewisse Haltung: Einerseits vielleicht eine zu enge Vorstellung davon, wie die Aufgabe und das Ergebnis der Aufgabe, die Sie delegiert haben, aussehen. Vielleicht auch die Neigung, sich sehr schnell wieder einzuklinken und damit (zumindest teilweise) die Verantwortung für eine Aufgabe wieder zu übernehmen, sobald es irgendwo hakt. Woraus diese Haltung resultiert - aus Zeitdruck, aus schlechten Erfahrungen der Vergangenheit, aus Ihrer hohen Kompetenz, auf Bitten derer, die die Aufgabe übernommen haben, o.a. - ist völlig unerheblich. Doch sie führt uns in einen Teufelskreis, in dem wir durch immer genauere Vorgaben und Kontrollen immer weniger erreichen und die Aufgaben schleichend immer mehr an uns zurückfallen. Trotz bester Absichten!
Die Falle, in die wir da immer wieder hineintrapsen, heißt mal Kompetenz, mal Hilfsbereitschaft oder auch mal Nettigkeit. Sie kann auch andere Namen tragen.
"Ich habe XYZ noch nicht verstanden; können Sie mir das bitte nochmal erläutern?", "Können Sie mir sagen, an wen ich mich wenden soll, um ....?" oder "Ich habe hier in einer kompakten Übersicht alle Informationen zusammengetragen, damit Sie entscheiden können, in welche Richtung wir weiter arbeiten sollen." sind Beispiele typischer Einladungen an Sie, etwas zu übernehmen, was Sie doch eigentlich delegiert haben. Und es könnte wie ein Affront wirken, wenn Sie Nein sagen. Und das, wo Ihnen doch klar ist, dass Führungsarbeit Beziehungsarbeit ist. Wie nur befreien Sie sich aus dem Dilemma?
Des Rätsels Lösung? Antworten Sie nicht - fragen Sie!
Der erste Schritt zur Besserung besteht darin, überhaupt die Falle zu bemerken. Das muss man sich immer wieder vornehmen, dann üben üben üben, und während dessen immer wieder geduldig die Fehlschritte reflektieren und vor allem die zunächst kleinen, aber immer größer werdenden eigenen Fortschritte würdigen.
Gelingt uns dieser erste Schritt, hilft es, ganz langsam im Kopf auf drei zu zählen, um die eigene spontane Reaktion zu unterdrücken, gleich mit einer Antwort zu reagieren. Diese Reaktion ist unserer Sozialisation geschuldet und der Annahme, dass Kompetenz und Hilfsbereitschaft immer darin besteht, Verantwortung zu übernehmen und Antworten zu liefern. Doch bekanntlich ist gut gemeint ja nicht automatisch gut gemacht, gell.
Als nächstes gilt es, Zugang zur eigenen Neugier zu schaffen, indem man die raschen Bewertungen, die einem da in den Kopf schießen, beiseiteschiebt ("Ist der zu dumm?", "Das muss sie doch längst wissen." oder "Ach ja, richtig, Entscheidungen treffen immer die Führungskräfte.", um bei den oben genannten Beispielen zu bleiben). Die echte Neugier wird einem etwas ganz anderes zuflüstern: "Was genau hat er nicht verstanden?", "Wen kennen Sie denn, den Sie vielleicht fragen könnten?" oder auch "Gerne höre ich mir einmal Ihre eigenen Überlegungen und Empfehlungen an, und wenn ich mit meinen Fragen dazu beitragen kann, Klarheit oder neue Einsichten zu schaffen, mache ich das gerne."
Wir kommen also in einen anderen Modus, in eine andere Haltung: Wir fragen - und regen damit die anderen zum eigenen Denken an. Statt ihnen die Verantwortung abzunehmen, unterstützen wir sie zu lernen, sie selbst zu tragen. Wir machen mit Fragen deutlich, dass wir dem anderen die Lösung zutrauen und geben damit Rückendeckung. Oft begegnen wir dabei selbst ganz neuen Erkenntnissen - weil wir durch Fragen Neues erfahren und vom anderen lernen, der womöglich ganz spannende Gedankengänge und Erfahrungen hat. Im Minimum erfährt man, wie unterschiedlich man ein und dieselbe Sache sehen kann. Und erst wenn wir wirklich merken, dass der andere am Ende seines Lateins ist, dann können wir - in einer Haltung der Augenhöhe! - auch unser Wissen und unsere subjektive Erfahrung anbieten.
Wir stärken also durch interessiertes Fragen die Beziehung, verbessern die Lösungsfindung - und vor allem, wir tragen damit außerdem noch zur Motivation des anderen bei: Er steigert nicht nur seine (wahrgenommene) Kompetenz, er erlebt, wie wir ihm Autonomie bei der Wahrnehmung der Aufgabe einräumen, und kann erkennen, wie er über die Verantwortungsübernahme zum großen Ganzen beiträgt.
Das, was also insbesondere Führungskräfte lernen sollten, um das Kellermeister-Syndrom zu vermeiden, ist wieder ihre natürliche kindliche Neugier zu entwickeln: Aus einer Haltung des Nicht-Wissens ist es nämlich einfacher, die richtigen Fragen zu formulieren. Hüten Sie sich dabei vor Suggestiv- und rhetorischen Fragen - Sie erreichen damit nur das Gegenteil!
Nebenbemerkung: In einer zunehmend vernetzten Welt, in der jeder Einzelne immer mehr singuläre Kompetenzen vertritt und als Unternehmer in eigener Sache agiert (siehe hierzu meinen Artikel zur Bedeutung von Digitalisierung), ist dies übrigens eine Haltung und das Fragen eine Kompetenz, die jeder einzelne entwickeln sollte.
Ein Tipp zum guten Schluss
Nehmen Sie also die Herausforderung an, nicht jede Einladung anzunehmen, die andere an Sie richten. Üben Sie sich in Gelassenheit, Demut (also der Erkenntnis, dass wir alle - sogar wir selbst, eieiei - wirklich enorm fehlbar sind) und Geduld, und nutzen Sie nicht zuletzt Ihren (Galgen-) Humor dabei, sich in der wahren Rolle einer Führungskraft zu sehen: Als jemand, der anderen dabei hilft, zu wachsen, Neues zu lernen und letztendlich zu meistern. Vielleicht hilft Ihnen auch ein wenig das folgende Bild...
Übrigens: Zwar verwende ich in diesem Text überwiegend die männliche Anrede beziehungsweise Form; als Frau liegt es mir jedoch am Herzen zu betonen, dass ich stets alle Geschlechter meine.
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